Eine Gaunergeschichte von Paul Bliß (Berlin).
in: „Mährisches Tagblatt” vom 18.02.1908,
in: „Czernowitzer Tagblatt” vom 19.02.1908,
in: „Leitmeritzer Zeitung”, Illustriertes Sonntags-Blatt, vom 13.05.1916 (hier: Der Herr von Nummer 36),
in: „Volksfreund” (Hallein), Illustriertes Sonntags-Blatt, vom 13.05.1916 (hier: Der Herr von Nummer 36),
in: „Österreichische Land-Zeitung”, Illustriertes Sonntags-Blatt, vom 16.05.1916 (hier: Der Herr von Nummer 36),
Es war acht Uhr früh.
Noch schlummerten die Logiergäste des Familienhotels „Berner-Hof”, aber unten im Parterre regten sich schon lange die rührigen Hände der Angestellten des Hauses, um alle Vorbereitungen zum Erscheinen der Gäste zu treffen.
Besonders Friedrich, der stramme Hausknecht, war in reger Tätigkeit: ein Haufen Stiefel und ein Berg von Kleidern lag vor ihm, die der Reinigung harrten. Aber dennoch hielt er manchmal mitten im Putzen inne, sah mit verschlafenen Augen sinnend hinunter auf den Fluß, der unmittelbar am Haus seine trüben Fluten träge weiter trieb, und wenn dann der kalte Nebel dicht aufstieg und die winzig vorlugenden Sonnenstrahlen verdüsterte, dann wurden auch des guten Friedrichs Augen trüb, und in stiller Wut murmelte er: „Sauwetter, verdammtes!”
Plötzlich schlug die elektrische Glocke an.
Grimmig sah Friedrich nach der angeschlagenen Nummer. „Na, der hat's wohl furchtbar eilig!” brummte er vor sich hin, und tapfte langsam die zwei Treppen hinauf nach Nummer 36.
Auf sein Klopfen erschien der Zimmergast im tiefen Negligee und fragte unwirsch und mit sehr energischem Nachdruck, wo denn eigentlich seine Sachen blieben.
Friedrich starrte ihn zuerst ein wenig verblüfft an, dann sann er nach, schüttelte den dicken Schädel, und erwiderte endlich: „Einen Augenblick bitte,” worauf er verschwand.
Langsam stieg er die Treppe wieder hinunter. Noch immer sann und sann er. Aber alles war umsonst. Er konnte sich absolut auf nichts besinnen, wenigstens nicht genau. Und unten angekommen, suchte er nun die berge der Stiefel und Kleider durch, doch keine Nummer 36 fand sich vor. Voll Zorn warf er alles durcheinander, suchte und suchte wieder, aber nur mit demselben erfolg. Nichts von Nummer 36 war zu sehen.
„Wat will denn der Dussel eigentlich? Er hat doch gar keene Kluft rausgehängt!” schimpfte er schließlich! Dann setzte er sich nieder, stützte den Kopf in die Hand und versuchte, sich auf die Ereignisse des vorigen Abends zu besinnen. Aber so viel er auch sann und grübelte, ganz klar waren ihm die Geschehnisse nicht mehr. Das zwar war ihm allerdings noch erinnerlich, daß der Herr von Nummer 36 erst gegen 10 Uhr angekommen war; ja er besann sich sogar noch darauf, daß er einen langen Ueberrock und große russische Gummischuhe angehabt hatte; von dem weiteren Verlauf der Dinge aber wußte er absolut nichts mehr; er hatte ein wenig gekneipt, war müde gewesen, und hatte dann rein mechanisch alle Sachen vor den Türen zusammengesucht und mit Nummern versehen.
Wieder schlug die elektrische Glocke auf Nummer 36 an.
Und zum zweitenmal tappte Friedrich hinauf.
„Zum Donnerwetter, wo bleiben denn meine Sachen? Ich muß zur Bahn,” schalt der Fremde.
Der Hausknecht zuckte ein wenig verlegen die schultern und antwortete: „Der Herr wird sich wohl irren; es sind keine Sachen da von Nummer 36.”
„Sie sind wohl verrückt geworden!”
„O, ich denke doch nicht.”
„sie! ich verbitte mir den Spaß! Schaffen Sie mir sofort meine sachen, oder der teufel hol' Sie!”
„Aber der Herr werden verzeihen, — es sind in der Tat keine Sachen da von 36.”
„Ja, zum Kuckuck, wo sind sie denn geblieben? Ich habe sie doch gestern abend hinausgegeben!”
„Was war es denn?”
„Rock, Hose und Weste und ein paar fast neue Schnprstiefel.”
Friedrich zuckte wieder die Schultern und sagte vorn neuem: „Ich kann nur wiederholen, es ist bichts da von 36.”
Jetzt wurde der Fremde grob: „Dann haben Sie es eben verwechselt!”
„O, bitte, das ist ganz ausgeschlossen! Fünf Jahre bin ich bereits im Hause, aber noch nie ist etwas von mir verwechselt worden.”
„Also gut. Wo sind die Sachen?”
„Unten im Parterre.”Der Fremde zog die Galoschen an, hing den langen Mantel um und stieg mit dem Hausknecht die Treppen hinunter.
Unten wurde ein Anzug nach dem anderen in Augenschein genommen, aber der richtige war nicht darunter. Mit einer Siegermiene stand Friedrich lächelnd da.
Der Fremde aber sagte kurz und bündig: „So sind meine Sachen eben einfach gestohlen. Rufen Sie mir sofort den Wirt und lassen Sie unverzüglich die Polizei holen.” Damit stieg er wieder hinauf in sein Zimmer.
Jetzt bekam es der gute Friedrich doch ein wenig mit der Angst, denn er sah. daß der Herr nicht mit sich spaßen ließ. Schnell lief er zum Wirt, weckte ihn und berichtete umständlich, was sich ereignet hatte.
Der Wirt, dem natürlich an dem guten Ruf seines Hauses gelegen war, kleidete sich sofort an und begab sich hinauf nach Nummer 36.
Dieselbe Szene wiederholte sich.
Empört rief der Fremde: „Ich bitte dringend, sofort die Polizei holen zu lassen!”
„Aber, mein Herr, Sie sind in einem hochanständigen Hause, ” versicherte der Wirt.
„Ja, zum Donnerwetter, wo sind denn aber meine Sachen geblieben? Oder meinen Sie, ich sei ein Betrüger! Hier, bitte, durchsuchen Sie meine Reisetasche!”
Flehend bat der Wirt: „Aber erregen Sie sich doch nicht so, mein Herr! Sie stören mir ja alle meine anderen Gäste! Ihr Anzug wird sich ja finden.”
„Finden? Wo soll er sich denn finden? Ich habe ja bereits alle Sachen durchgesehen, die unten sind! — Sie haben eben einen Dieb im Hause. Also lassen Sie gefälligst sofort die Polizei holen. Meine Zeit ist knapp.”
„Aber, mein Herr, so lange ich das Haus habe, ist so etwas noch niemals vorgekommen!”
„Nun gut. Wo ist Ihr Telefon? So werde ich selber die Polizei rufen.”
„Mein Herr, ich bitte, haben Sie doch ein wenig Geduld. Sie vernichten ja den guten Ruf meines Hauses. Ihr Anzug muß sich ja doch wiederfinden!”
„Sehr gut! Soll ich hier vielleicht bis zum Abend in Unterhosen umherlaufen? Um halb zehn Uhr geht mein Zug. Ich werde Sie für alles verantwortlich machen!”
Der Wirt, Angstschweiß auf der Stirn, bat noch einmal höflichst: „Bitte, mein Herr, haben Sie ein paar Minuten Geduld, ich werde sofort Rat schaffen.
Schnell hatte der fürsorgliche Hausherr sich entschlossen, lieber den Schaden zu tragen, als durch einen Polizeiskandal sein gutes Haus in Verruf kommen zu lassen.
Bereits zehn Minuten später klopfte an die Tür von Nummer 36 der Zuschneider eines benachbarten Herrengarderobegeschäfts, nahm dem Fremden Maß und nach wiederum zehn Minuten lagen sechs fertige Anzüge dem fremden Herrn zur Wahl vor. Desgleichen wurden aus einem Schuhgeschäft verschiedene Stiefel zur Auswahl geschickt.
Nach kaum einer halben Stunde war der Herr von Nr. 36 neu equipiert. Er schalt zwar noch recht tüchtig, daß er einen sehr schlechten Tausch mache, denn sein Anzug wäre viel gediegener gewesen, auch die Stiefel seien lange nicht so gut, als die seinigen gewesen waren. Da indessen der Wirt immerfort bat und ihn beschwor, daß er keinen Skandal machen möge, und da er ihm endlich auch noch das Zahlen der Hotelrechnung erließ, so gab sich der Fremde schließlich zufrieden und ging eilig zum Bahnhof.
Erst als er hinaus war, atmete der Wirt wieder auf. Die Sache hatte zwar zirka 100 Mark gekostet. Aber immerhin war dies noch leichter zu tragen, als ein Skandal, der ihn um seinen Ruf brachte.
Einigermaßen beruhigt setzte er sich zum Frühstück nieder, um sich nach der ausgestandenen Aufregung zu stärken. Doch kaum saß er, so kam eine neue Ueberraschung für ihn.
Es erschien ein Schiffer, dessen Kahn auf dem Fluß an der Rückseite des Hotels seit gestern abend festgemacht war. Der Mann brachte ein ziemlich umfangreiches Paket und berichtete dazu, daß es nach Mitternacht, als alles schon schlief, aus einem Fenster des Hotels ins Wasser geworfen worden sei. Er sei noch wach gewesen, hatte zum Kabinenfenster hinausgesehen, da sei das Paket an seinem Kopf vorbei ins Wasser geflogen. Zuerst habe er an ein Verbrechen gedacht. Da aber alles still blieb, sei auch er ruhiger geworden. Gleich bei Beginn des Morgengrauens habe er dann mit dem langen Haken nach dem Paket gefischt, bis er es denn auch endlich, nach vieler Mühe, gefunden hatte.
Der Wirt war äußerst erstaunt und ließ das Paket öffnen. Und zu seiner großen Verwunderung kam ein abgetragener, geflickter und mehr als schäbiger Anzug und ein paar total zerrissene Stiefel zum Vorschein. Dabei war ein mit Bleistift geschriebener zettel, auf dem man nach einiger Mühe noch die Worte entziffern konnte: „Da der Winter kommt, muß man sich neu einkleiden!”
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